Wir alle haben einen Platz tief in uns drin, an dem wir ganz wir selbst sind – und uns meist gar nicht so übel finden. Komischerweise haben wir nichts Besseres zu tun, als diesen Platz mit Händen und Füßen gegen Eindringlinge zu beschützen – anstatt jede liebenswerte Eigenschaft unserer Persönlichkeit nach Außen zu tragen.
Was, da sind nicht nur liebenswerte Eigenschaften? Wir sind manchmal auch neidisch, zickig, missgünstig und gemein? Wir könnten manche Menschen auf den Mond schießen und lästern über sie? Wir denken heimlich an Sex mit unserem Nachbarn (oder seiner Frau)? Wir sind manchmal verbittert und unzufrieden?
Tja, eigentlich ist das alles ganz normal. Ja, normal. Wir Menschen mussten jahrtausendelang in engen Höhlen zusammenleben, ohne Chance auf Individualität und Freiraum. Die Alphatiere, die die Meute angeführt haben, hatten noch am meisten Freiheiten. Deshalb streben wir noch heute insgeheim danach, genau wie sie zu sein. Selbstbestimmter und unabhängiger. Aber daran hat unsere normierte Gesellschaft kein großes Interesse.
Für unseren Chef ist es einfacher, wir halten die Füße still und bleiben schön an der richtigen Position innerhalb der Rangordnung. Also bitte keine eigenen Ideen einbringen oder Verbesserungsvorschläge äußern. Auch für unsere Schwiegermutter ist es am einfachsten, sie behält die Oberhand. Schließlich hat sie schon ihre Brut großgezogen und weiß genau wie das geht. Wenn sie uns kritisiert, versucht sie also nur die Informationen an uns weiterzugeben, die sie im Laufe ihres Lebens selbst gesammelt hat und damit das Überleben ihrer Nachkommenschaft zu sichern. Was bei uns oft wie eine Bevormundung ankommt, sind einfach nur die Gesetze der Evolution. Dazu gehört auch, dass wir denken, dass wir es besser wissen – denn ohne Innovation und Anpassung an neue Gegebenheiten, ohne dass die junge Generation es so macht, wie sie es für richtig hält, wären wir Menschen nie so weit gekommen.
Wie ist das jetzt also mit unserer Missgunst, unserer Zickerei und unseren lüsternen Gedanken für unseren Nachbarn? Die Wahrheit ist: Wir horchen auf, sobald wir jemanden treffen, der einen vermeintlich höheren Status hat, als wir selbst. Denn das heißt – einfach gesagt – dass derjenige seine Gene einfacher weitergeben kann, als wir.
In der Steinzeit sind wir bei einem muskulösen Mann mit breiten Schultern schwach geworden sind, der geschickt bei der Mammutjagd war. Heute schauen wir uns nach den Porschefahrern um. Nach Männern, die gepflegt sind, die richtige Uhr tragen und den Habitus von Erfolg und Geld vor sich hertragen. Genau diese Signale sind nämlich heute unser Garant dafür, dass bald ein fetter Mammut auf dem Tisch liegt.
Was bei Frauen früher ein breites Becken und große Brüste waren (nämlich Signale für Fruchtbarkeit und Jugend) sind heute Make up, falsche Fingernägel, blonde Haare und Silikonbrüste. Und natürlich das Dauerabo im Fitnessstudio.
Wenn wir über Sex mit dem Nachbarn nachdenken, sind das unsere Urinstinkte, die sich melden. Genauso beim Lästern – wir reden über andere, um uns im Rahmen unserer sozialen Gemeinschaft klar zu werden, wo jeder auf der Statustreppe steht. Über oder unter uns? Je genauer wir das einsortieren können, desto einfacher finden wir uns im Leben zurecht.
Zu verstehen, dass alle Gedanken, die wir haben, ihren Ursprung in unserer Herkunft haben, ist die eine Sache. Natürlich haben einige davon nichts in der Öffentlichkeit zu suchen und sind ganz gut in unserem privaten Gedankenstübchen aufgehoben. Aber dass wir Menschen mit Fehlern, Talenten, Schwächen und Vorlieben sind – das ist ein Gedanke, an den wir uns gewöhnen sollten. Mehr noch, wir sollten uns all diese Seiten unserer Persönlichkeit ganz genau anschauen.
Denn nur wenn wir aufhören, jemand anders zu sein und beginnen authentisch zu leben, können wir glücklich sein. Dabei ist die simple Botschaft „Sei Du selbst“ viel zu abstrakt, als dass wir sie alleine umsetzen könnten. Wie bin ich ich selbst, wenn ich es noch nie war? Wie geht das? Viel einfacher ist es für uns, eine Handlungsanweisung zu bekommen, an der wir unser Verhalten konkret ausrichten können: „Hör auf zu versuchen, jemand anders zu sein.“
Aber wieso versuchen wir das eigentlich ständig? Weil wir dazugehören wollen. Wir wollen unseren Freunden gefallen, unserem Mann, unserer Partnerin, unserem Chef. Das alles hängt wieder mit dem Status zusammen und damit, erfolgreich zu überleben.
Fakt ist: Wir können es nicht jedem Einzelnen Recht machen, außer uns selbst. Was bringt es, wenn alle mit uns zufrieden sind, weil wir in ihr Weltbild passen – aber unser Glück bleibt dabei auf der Strecke? Wir lernen nicht zu singen, zu tanzen und zu malen. Wir haben nicht den Sex, den wir uns insgeheim wünschen. Wir sind nicht mit dem Mann zusammen, den wir lieben. Wir schlafen nicht mit der Frau, die wir begehren. Wir haben weder unseren Traumberuf noch unser Traumhaus. Wir leben auf dem Dorf anstatt in der Stadt – gefangen in einem Körper, in dem wir uns nicht wohlfühlen. Das könnte uns nie passieren? Ich glaube, dass es jedem von uns schon passiert ist – mal mehr, mal weniger intensiv.
Die gute Nachricht ist: Das muss nicht so bleiben. Die Erwartungen der Anderen sind die Erwartungen der Anderen. Wir müssen nicht den alten Mustern folgen und einen Pfad weitergehen, nur weil er schon ausgetrampelt ist. Wir dürfen rechts und links schauen, an Blumen riechen und abbiegen. Auch wenn das heißt, dass wir Menschen vor den Kopf stoßen, weil wir uns verändert haben. Oder sie hinter uns lassen müssen, weil wir weitergehen.
Ich war neulich bei einer guten alten Freundin. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, haben eine Hochzeit, eine Scheidung und noch eine Hochzeit zusammen erlebt. Kinder bekommen. 25 Jahre unseres Lebens Kontakt gehalten. Und da saß ich nun in ihrem Garten, stellte ihr Fragen, hielt das Gespräch am laufen und heuchelte Interesse. Ja, ich heuchelte, denn da war kein Draht mehr.
Meine Freundin war genau dort stehengeblieben, wo ich sie vor 3 Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Bei mir war in der Zwischenzeit wahnsinnig viel passiert. Und sie, die das wohl ahnte, stellte mir nicht eine einzige Frage zu meinem jetzigen Leben. Wir sprachen ausschließlich über unsere gemeinsame Vergangenheit und über ihr Leben. Nach diesem Nachmittag wusste ich alles über sie und sie nichts über mich – und ich fuhr irgendwie deprimiert nach Hause.
Mit ein bisschen Abstand wurde mir klar: Sie hatte mich gar nicht fragen KÖNNEN, was ich mache, weil sie einen Statusverlust fürchten musste. Ich begriff, dass eine alte Freundschaft und über Jahre verbindende Erlebnisse von der Evolution ganz schnell entkräftet werden können. Das sind dann die Geschichten über beste Freunde, die sich so über eine Frau gestritten haben, dass ihre Freundschaft vorbei ist. Über Frauen, die sich „ja so verändert haben“, seit sie in die Großstadt gezogen sind. Und über Männer, die ihre erste Frau verlassen, um die zweite zu heiraten, die aussieht, wie die erste – in jünger.
Mit der Statusdifferenz lässt sich auch erklären, warum wir manchen Menschen alles sagen können und bei anderen nie den richtigen Ton treffen – egal wie sehr wir uns bemühen. Wenn wir ein neues Haus gebaut haben und unsere Freunde zu Besuch kommen, wird es die geben, denen wir voller Stolz jedes Detail zeigen können und die sich mit uns freuen. Und dann gibt es die, die mit ihrem Leben und ihrem Status unzufrieden sind. Bereits während wir sie durchs Haus führen, spielen wir die Ausstattung runter. Machen alles weniger wertvoll und aufwändig, als es ist. Weisen auf das hin, was noch nicht fertig ist – weil wir instinktiv spüren, dass zwischen uns eine Statusdistanz aufklafft, die wir vielleicht nicht mehr schließen können.
Aber müssen wir uns und das worauf wir stolz sind verleugnen, nur um das Statusniveau künstlich im Gleichgewicht zu halten? Ist es nicht viel wichtiger, uns selbst treu zu sein und unsere Wünsche und Ansprüche ans Leben klar zu äußern? Denn je eher und häufiger wir uns mit Menschen umgeben, bei denen wir authentisch sein können, desto eher wird es uns schließlich auch gelingen, diese Wünsche und Ansprüche umzusetzen.
In diesem Sinne wünsche ich euch einen wundervollen Tag volller Klarheit
Eure Svenja
9 Kommentare
… true words!!
Liebe Svenja, Deine Zeilen spiegeln mein Empfinden absolut wider. Nur was tun, wenn es nicht die Freundin, sondern die eigene Schwester ist, zu der man trotz aller Bemühungen nach über 30 Jahren den Draht verliert? Deine gedankenverlorene K.
@Kathleen – Das geht mir mit meinem großen Bruder so. Seit Jahren bemühe ich mich, den Kontakt irgendwie aufrechtzuhalten, obwohl oder gerade weil unsere Eltern nicht mehr leben. Aber irgendwie kommt nie was zurück… Traurig, was?
Hallo liebe Svenja!
dem Blog von heute bleibt nichts mehr hinzuzufügen! Wahre Worte! Werde mir heute abend darüber KLARHEIT verschaffen!
Liebe Grüße!
Heidi
Was für tolle Denkanstöße! Besonders bei der Kombination “Freunde – Statusdifferenz – Fragen stellen” ist mir ein Licht – nein, was sage ich – eine ganze Flutlichtkette aufgegangen. Das bringt mich einen ganz großen Schritt weiter – begeisterten Dank für diese Inspiration!
P.S.: Hast du schon mal ausprobiert, was passiert, wenn du in einem solchen “gute-alte-Freundinnen-Gespräch” aufhörst, Fragen zu stellen?
Ha – nein, das habe ich noch nie ausprobiert, Daniela. Ist aber eine Spitzenidee – wahrscheinlich wäre es mehr als seltsam….
Ja, wenn ich daran denke, das ‘mal wirklich durchzuziehen, steigt mein Stresspegel – eine echte Herausforderung. Aber gerade deshalb ist es wohl wichtig, sich ihr zu stellen. Sehr spannend!
Das kam genau zur richtigen Zeit. Hast Du sehr schön geschrieben und regt mich bei ein paar Punkten wieder zum Nachdenken an. In diesem Sinne, genießt den Tag und umgebt Euch mit Menschen die Euch gut tun :-)
Puh, selten hat mich ein Blogeintrag so beschäftigt.
So hab ich das tatsächlich noch nie betrachtet und komm aus dem Grübeln nicht mehr raus.
Wenn man aus diesem Blickwinkel die Beziehungen durchleuchtet, versteht man die vielen Probleme miteinander und es ist doch erschreckend und tut irgendwie weh.
Ich grübelt weiter, ABER freu mich zwischendurch über die paar wenigen wirklich echten Freundschaften, die Statusunterschiede spielend überleben! Jipiieh ;)
Brittcheb