Loslassen

Ich bin jetzt in der Phase, wo meine Kinder das Haus verlassen. Und da muss ich sie loslassen, zumindest im täglichen Miteinander. Denn meine Tochter ist zum Studieren nach Amsterdam gezogen und meinen Sohn hat es für ein Jahr Work & Travel nach Australien verschlagen.

Als ich unsere Abschiede auf Social Media erzählt habe, haben mir viele geschrieben: “Ich habe schon solche Angst vor der Phase, wenn die Kinder das Haus verlassen. Kannst du da ein bisschen mehr darüber erzählen? Bei dir sieht das so leicht aus. Musstest du am Flughafen gar nicht weinen?”

Die Antwort ist: Nein, musste ich nicht – und das hat gute Gründe. Ich habe die Kindheit meiner Kinder ganz bewusst so mit ihnen verbracht, wie ich mir das vorgestellt habe – und eng mit ihnen zusammen gelebt. Ich habe beide erst mit dem dritten Lebensjahr in den Kindergarten gegeben und auch da waren sie nie länger als bis 14 Uhr und wir haben viele Nachmittage miteinander verbracht. Auch vor dem Kindergarten hatte ich Unterstützung daheim, weil ich immer gearbeitet habe. Aber: ich war da, ansprechbar und habe mir meine Arbeitszeiten frei einteilen können.

In der Schule habe ich meine Kinder nicht in die Mittagsbetreuung gegeben und habe sie oft hingefahren und abgeholt. Es gab immer frisches Mittagessen. Ansprache, falls jemand Hilfe bei den Hausaufgaben brauchte. Und trotzdem waren sie selbstständig und wussten: Ich bin berufstätig und habe einen Job, um den ich mich kümmern muss – auch wenn ich mein Büro daheim habe. Und Schule, das ist ihr Job. Das ist das, worum sie sich kümmern müssen. Und für alles andere bin ich da.

Wir haben es uns jeden Tag schön gemacht.

Ich versuche ihnen das Leben so angenehm und schön wie möglich zu machen, dass sie wirklich nur diesen einen Job leisten müssen. Und zuhause, da machen wir es uns richtig nett und sammeln zusammen Kraft.

Ich glaube, es ist genau diese intensiv zusammen verbrachte Zeit, es sind diese wahnsinnig vielen Erlebnisse. Nicht die Hochglanzmomente, sondern die echten. Ich habe gar kein Bedauern, wenn ich zurückblicke. Ich habe nichts verpasst. Ich hätte nicht gerne noch mehr Zeit mit ihnen verbracht, sondern ich habe all meine Zeit, die ich mit ihnen verbringen wollte, mit ihnen verbracht.

Trotzdem habe ich an dem Tag, bevor mein Sohn nach Australien aufgebrochen ist, gemerkt: da kommen Emotionen hoch. Er, der noch nie länger irgendwo alleine war und vor allem nicht für ein ganzes Jahr und auch nicht weit weg von uns – der fliegt morgen ans andere Ende der Welt? In der Nacht davor bin ich aufgewacht und habe mich gefragt: “Warum bist du jetzt so emotional, wenn du da daran denkst?” Denn was ich auf gar keinen Fall wollte: am Flughafen stehen, wenn mein Sohn zum größten Abenteuer seines jungen Lebens aufbricht, und anfangen zu weinen. Für uns alle sollte am nächsten Tag nicht der Abschied im Zentrum stehen, sondern der Aufbruch.

Ich habe wachgelegen und mir überlegt, woran es liegen kann, das sich mich so fühle und musste feststellen, dass es einfach eine Verklärung ist. Weil in dem Moment, da denkt man sich: “Ja Wahnsinn, dann ist er ja weg und dann ist ja alles anders!” anstatt auf das zu schauen, was wir alles zusammen gehabt haben. Und dann bin ich das ganz in Ruhe einmal durchgegangen.

Wie war das eigentlich wirklich, Kinder zu haben?

Ich habe mir überlegt, wie das damals war, als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin mit ihm. Wie das war, als Ludwig geboren wurde. Als ich frühmorgens von den Wehen aufgewacht bin um 5:30 Uhr. Ich habe mir das alles nochmal ganz genau ins Gedächtnis gerufen. Habe mir überlegt: wieviel Verkehr war auf der Straße? Wo sind wir da auf den Mittleren Ring aufgefahren? Ich habe das wirklich alles nochmal vor mir gesehen. Es war mitten in der Dämmerung und wir sind nochmal ums Gebäude gelaufen, um die Wehen in Schwung zu bringen. Wie war die Geburt? Wie war der erste Moment, als ich ihn gehalten habe? Wie war das mit ihm nach Hause zu kommen und als Lissy ihn daheim begrüßt hat?

Wie war dann die erste Zeit? Wir haben im dritten Stock in einer alten Villa im Herzogpark gewohnt und ich musste, wenn wir vormittags unterwegs gewesen waren, immer erst Ludwig im Maxi-Cosi nach oben tragen und dann die schlafende Lissy. Und die ist fast immer aufgewacht und ich hatte nie eine Mittagspause. Und dann fallen einem ja tausend kleine Details ein.

Wie war das, das erste Mal mit ihm zu verreisen? Der erste Kindergartentag. Und dann gleichzeitig immer alle Dinge mitzudenken, die zu solch einem Anfang dazugehören. Matschhose besorgen, Gummistiefel kaufen. Hausschuhe, Brotdose, Rucksack, Trinkflasche, Namensschilder. Ihr wisst es selbst – es sind sind tausend kleine Sachen und wir Mütter müssen an alles denken. Ihn mit Vorlauf im Kindergarten anmelden. Für’s Anmelden die Geburtsurkunde raussuchen und den Impfpass mitbringen. Und, und, und. Und so geht das dann die ganze Zeit weiter.

Irgendwo wird immer Geld eingesammelt für einen Ausflug, das wir Mütter passend da haben müssen. Oder es hängt eine Liste aus, in die wir uns eintragen, mit dem Kuchen, den wir für das Kindergartenfest beisteuern.

Du musst 10.000 Stunden da sein, um die 5 Minuten zu erwischen, auf die es ankommt.

Permanent sind wir damit beschäftigt, alles zu regeln. Aber es ist nicht nur das Organisatorische, sondern auch das Emotionale, Seelische. Wenn unser Kind aus dem Kindergarten kommt und schlecht drauf ist. Warum ist es schlecht drauf? Aha, es ist zu dem Geburtstag nicht eingeladen. Oder irgendjemand hat ihm was weggenommen und das fand es unfair, hat sich aber nicht getraut, was zu sagen, weil das andere Kind ein bisschen lauter und größer war.

So gehen die Tage ins Land, mit Konfliktmanagement und Dingen, die zu erledigen und zu besprechen sind. Aber es gibt auch wahnsinnig viele schöne Dinge, die wir zu hören kriegen – obwohl wir uns gerade was ganz anderes vorgenommen hatten oder noch was abarbeiten müssen. Aber wenn so ein Kind nach Hause kommt, hat es halt Vorrang mit seiner Erzählung und seiner Begeisterung und seiner Freude oder mit seinem Kummer. Und so zieht sich das durch all unsere gemeinsamen Jahre.

Das Matheheft braucht den blauen Umschlag, das Deutschheft den roten. Und dann stehen wir da in der Schlange mit diesen tausend Müttern und Kindern im Schreibwarenladen in der Ortsmitte und ziehen uns wieder diese ganzen Energien rein.

Es ist eine nie endende To-Do-Liste physischer Dinge, die wir für unsere Kinder erledigen. Dinge, die wir da haben müssen. Dinge, die wir aus dem Ärmel zaubern müssen. Plus die Mental Load, diese Balance, die wir jeden Tag aufs Neue suchen und finden. Damit die Kinder und wir mit anderen und innerhalb der Familie gut miteinander klarkommen.

Das alles gestützt mit herbeigesehntem Lieblingsessen, dem Kümmern um “Ist das T-Shirt sauber, das ich morgen anziehen will?”, das Finden von “Wo sind meine Sportschuhe?” und dem Augenrollen bei Sätzen wie “Ich brauche Sägemehl, einen Luftballon und einen Scotch-Brite-Schwamm für ein Projekt, das wir heute in der ersten Stunde in Kunst machen!” Und irgendwie haben wir das alles hingekriegt, obwohl es wahnsinnig viel war. Viel Planung, viel Aufwand, viel Aufregung, viele Erledigungen.

Und dann lag ich da in der Nacht und dachte mir: Es ist wirklich nichts schöner, als eine Familie zu haben und das alles gemacht zu haben. Ich habe es total genossen. Und jetzt kommt was Neues.

Deshalb fällt mir das Loslassen leicht: weil ich alles erlebt habe, was es zu erleben gab. Das war wunderschön und anstrengend und messy. Und jetzt genieße ich, dass es vorbei ist.

In diesem Sinne

Eure Svenja

16 Kommentare

  1. Guten Morgen, Svenja,

    ich fühle diesen Post so sehr. Mein ältester Sohn lebt jetzt seit zwei Jahren nicht mehr bei uns, aber ich habe ihn sehr gern gehen lassen. Nicht, weil ich ihn nicht gern noch länger hier behalten wollte, sondern weil es dazu gehört. Wir haben gemeinsam Wohnungen besichtigt, renoviert, Möbel gekauft und aufgebaut, die ersten eigenen Pflanzen zusammen geshoppt. Nichts davon möchte ich missen. Als der Tag des Umzugs da war, fuhr er mit seinem Wagen vor uns und ich habe zu meinem Mann gesagt: “Halt mal ein bisschen Abstand, ich möchte nicht, dass er im Rückspiegel sieht, dass ich weinen muss.” Dann habe ich ein paar wenige Tränen vergossen, von denen ich nicht wollte, dass er sie sieht, denn dieser Tag sollte der Neubeginn von etwas Großartigem für ihn sein, das war mir wichtig.
    Bei mir war es ja ähnlich wie bei dir: Ich habe von Zuhause aus gearbeitet, die Kinder sollten nach der Schule nach Hause kommen können, mir vom Tag erzählen, mit mir gemeinsam essen und Hausaufgaben machen. Ich habe im Falle unseres Jüngsten sechs Jahre lang zwei Brotboxen gefüllt, weil eine Mitschülerin nie Frühstück von daheim mitbekam und gefühlt unendlich viele Kuchen gebacken und bei Veranstaltungen in der Schule geholfen. Mir wird gerade bewusst, wie viel Glück ich hatte, denn diese Möglichkeit haben nicht alle Eltern.
    Gerade bin ich mit meinem mittleren Sohn auf Wohnungssuche und auch hier freue ich mich sehr auf das, was für ihn kommt – und für uns als Eltern, als Paar und als Familie, wenn wir bald nur noch zu dritt sind.

    Danke für diesen schönen Post am Sonntagmorgen.
    Alles Liebe, Michaela

    1. Michaela, so kenne ich Dich – die Geschichte von den beiden Brotboxen ist so sehr “Du”. Völlig recht hast Du: wir dürfen da sehr dankbar sein, dass wir das alles so erleben durften. Vor allem auch meinem Mann bin ich dankbar – denn er war der Hauptverdiener und hat uns das alles ermöglicht. Berührt mich sehr, Dein Kommentar und dass Du da so ähnlich gelebt hast.

  2. Ich bin noch mittendrin aber ich versuche auch einfach meine Zeit und unseren Alltag miteinander zu genießen und nicht irgendwann zu denken … hätte ich doch. Es ist so ein schöner, berührender, echter Text den Du das geschrieben hast. Ich denke wenn man sich viel Zeit genommen hat und nehmen konnte, ist es leichter loszulassen und zu genießen was für tolle Persönlichkeiten dem Nest entwachsen sind. Danke für diesen tollen Text.

  3. Ich fühle jeden einzelnen Satz. Meine Empfindungen, als die Kinder nacheinander und einer ungeplant, überstürzt (aber auch schön) zu neuen Abenteuern aufgebrochen sind, da habe ich mich (mit ihnen und für mich/uns) gefreut.
    Sie wagen den Schritt und wir sind das Nest, in das sie zurückkommen können.
    Natürlich gab es bei jedem Auszug auch emotionale Elemente (zumal ich schlecht in Abschied bin), aber wie du sagst, das Gefühl, ihnen alles gegeben zu haben, hat immer überwogen. Und es allen schön gemacht, neue Wege zu gehen.
    Ich finde es einfach schön, zu wissen und zu lesen, das du genauso empfindest.
    Könnte noch ewig weiter dazu schreiben.
    Liebe Grüße
    Nicole

  4. Auf diesen Post hab ich mich gefreut. Ich verfolge dich und deine Familie schon so lange und es ist total schön zu sehen, wie sich eure Kinder entwickeln und ihre eigenen Wege gehen. The days are long – the years are short…wie gut, in jeder Phase so leben zu können, wie man es sich vorstellt…ganz individuell und passend für die eigene Familie. So machen wir das auch und es ist wirklich ein Geschenk.

    1. Ach Angelika, das ist ja verrückt. Danke für Deine lieben Worte. Ja, es ist wirklich so, dass wir durch den Blog ein bisschen öffentlich “groß geworden” und “älter geworden” sind. Ich bin darüber total froh – ich habe so viele Erinnerungen, Rezepte und Situationen festgehalten. Das ist wie ein Lebenswerk, in dem ich jederzeit blättern kann. Und ich weiß, dass auch andere immer mal wieder darin blättern. Ist einfach eine tolle Community zusammengewachsen damals, als ich noch SEHR aktiv geschreiben habe. Jetzt, in der neuen Phase, wird sicher auch einiges passieren. Ich freu mich auf jeden Fall, wieder mehr für euch zu schreiben.

  5. Liebe Svenja,
    schön und bewegend zu lesen. Aber genauso sehe ich das auch, wir brechen morgen früh nach Freiburg auf und richten das erste Studentenzimmer ein. Ich habe die Zeit des Begleitens und Aufwachsens auch immer genossen aber jetzt freue ich mich auch auf meine Zeit und was da noch alles kommt… apropos unser Spaziergang ? alles Liebe Deine Isabel

  6. Liebe Svenja,
    ich danke Dir sehr für diesen Blogpost. Mit meinen beiden älteren Kindern habe ich das Loslassen schon durch, meine beiden „Kleinen“ sind mittendrin im Verändern. Meine Zweitjüngste hat vor 5 Wochen ein superduper Examen als Pflegefachfrau hingelegt und sich gleichzeitig eine Wohnung gesucht und gefunden. Ab übermorgen fängt sie ihre neue Stelle an und der Umzug ist auch voll im Gange. Bei den drei Großen bin ich sicher, dass sie zuhause das nötige Rüstzeug fürs Leben bekommen haben. Hat die Jüngste auch, aber sie ist noch für ein Jahr zuhause. Fürs nächste Jahr steht Ihr Ausbildungsabschluss an und anschließend wird sie für ein Jahr als Aupair in die USA ziehen. Ich freue mich sehr für meine Kinder, dass sie sich ihre Wünsche erfüllen können. Auch darum fällt das Loslassen leichter. Und die Tür steht für alle jederzeit offen.

  7. Liebe Svenja,
    vielen Dank für den Post. Ich habe mich in letzter Zeit öfter gefragt, ob ich eine Rabenmutter bin, weil ich den Auszug meiner Kinder nicht betrauere. Gefühlt finden es alle um mich herum ganz schrecklich und sind dann alle unheimlich traurig.
    Ich fand es so toll, mit meiner Großen Ihr Studentenzimmer einzurichten und liebe ihre Berichte aus dem Studentenleben. Morgen kommt sie für eine Woche nach Hause (während des Semesters kommt sie nur an hohen Feiertagen wie Karneval oder Weihnachten – aber das habe ich damals auch nicht anders gemacht), da freue ich mir sehr und werde meine Arbeit so schieben (als Freelancerin ja zum Glück möglich), dass ich einen ganzen Tag nur mit ihr verbringen werde.
    Geheult habe ich nur einmal (und da auch erst als das Kind außer Sichtweite war), als meine Jüngste mit 16 für ein Jahr nach Kanada ging und wir erst 3 Tage vorher erfahren haben zu wem und ich die Frau etwas seltsam fand und noch nicht mal mir ihr telefonieren konnte. Das Kind hat dann auch nach einem halber Jahr die Familie gewechselt….
    Und so freue ich mich über jeden Vogel, der das Nest verlässt und über jeden, der ab und zu wieder zurückkommt und sich von Mama verwöhnen lässt.

    1. Liebe Karin, oh ja, mit 16 ein jahr nach Kanada und dann mit einer “komischen Frau” – da wäre mein Herz auch schwer gewesen. Ich seh es genau wie Du: die Kinder sind reif und dürfen in die Welt und wir freuen uns mit ihnen über all das Tolle, was sie erleben. Und die Studiwohnung mit meiner Tochter einzurichten war das absolute Highlight!!!!! Viel Spaß mit Deiner Tochter!!

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