No turning back

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Mein Vater und ich auf unserem letzten Familienfoto vor der Trennung meiner Eltern

In den letzten zwei Wochen ist etwas passiert, was mich auf den Kopf gestellt hat. Alles begann damit, dass mein Bruder nicht mit mir Weihnachten feiern wollte. Nicht, weil er mich nicht mag, sondern weil ich nicht ausdrücklich gefragt hatte, ob er mit uns feiert. Und da hatte er eben mit seiner Freundin verabredet, dass er abends mit ihr kocht.

Eigentlich völlig Ok, nur dass ich – nachdem er mir das gesagt hatte – anfing zu weinen. Und nicht mehr aufhören konnte. Aber (und das hier ist der wichtige Part) erst NACHDEM er gegangen war. Denn ich habe in meinem Leben gelernt, die Dinge mit mir selbst auszumachen.

Aber diesmal war es anders. Ihr müsst wissen: ich habe jedes einzelne Weihnachtsfest mit meinem Bruder verbracht. Alle 42 Jahre. Und glaubt mir: es gibt ganz ganz wenige Dinge, die meinem Leben ein festes Raster gegeben haben. Anstatt dessen gab es viele Unsicherheiten. Ab dem Moment, als sich meine Eltern trennten, war es vorbei mit meinem Urvertrauen. Auf Nichts ist Verlass. Das habe ich damals gelernt. Selbst Gott (und er weiß, dass ich ihn OFT gebeten habe, dass meine Eltern wieder zusammenkommen) hat mich im Stich gelassen. Und weil ich 8 war und nicht verstanden habe, dass die Beziehung zu Gott so nicht funktioniert, habe ich einfach nicht mehr an ihn geglaubt. Take that Gott.

Weil Scheidungen eine Erhöhung der Ausgaben zur Folge haben – schließlich brauchte auch mein Vater eine Wohnung und ein Auto – musste meine Mutter wieder arbeiten. Aufgefangen wurden wir im Freundeskreis. Mein Bruder und ich gingen nach der Schule also zu befreundeten Familien, aßen dort gemeinsam im Kreis der Familie und machten Hausaufgaben und gingen irgendwann am späten Nachmittag wieder nach Hause.

Das war bestimmt die beste Art des Übergangs für uns. Wenn man die eigene Familie verliert, braucht man Nahrung für die Seele – und die gab es in meiner “Gastfamilie”. Aber es gab ein Problem: Ich wurde nicht nur von meinem Vater getrennt, weil er auszog. Oder von meiner Mutter, weil sie arbeiten musste. Sondern auch von meinem Bruder, weil der ja in eine andere Gastfamilie ging. Anders gesagt: I went from full circle to nothing. Und genau das Gefühl bringt mich mit 42 Jahren zum weinen, wenn mein Bruder an Weihnachten was anderes vorhat, als bei mir zu sein.

Und da sitze ich also an meinem Küchentisch und weine heimlich, damit die Kinder nicht sehen, dass es mir schlecht geht. Und erst wenn mein Bruder fort ist, denn ihm direkt und ungefiltert zu zeigen, wie viel mir das bedeutet, das geht nicht. Und glaubt jetzt nicht, dass ich es für Zufall halte, dass mein jüngstes Kind (ich bin ja auch die kleine Schwester) jetzt 8 ist. There is a right time for everything.

Vielleicht werdet ihr nun denken: “Was? DU kannst das nicht? DU kannst Deine Gefühle nicht zeigen? Du kannst doch über alles schreiben. Ich habe doch schon so viel von Dir gelernt. So viele Denkanstöße bekommen.”

Mag sein, aber die Wahrheit ist: ich kann schreiben, weil ich gelernt habe, die Dinge in mir zu halten, um andere zu schützen. Und deshalb ist so viel in mir drin, dass ich wahnsinnig viel schreiben muss, um mich von diesen Dämonen zu befreien.

Ich schreibe ein Buch über eine schöne Kindheit, weil meine mit acht vorbei war. Ich beschäftige mich mit frischem und gesundem Essen, weil meine Mutter zwar immer vorgekocht hat, falls sie abends später kam – aber mein Essen war immer aufgewärmt. Ich schreibe übers Basteln, weil ich die schönsten Erinnerungen habe, wie meine Mutter mir das beigebracht hat. Und manchmal schreibe ich auch ums Überleben. Weil ich merke: ich bin so wahnsinnig traurig, das muss jetzt raus. Und Schreiben ist für mich so viel einfacher, als Reden.

In mir drin, da gibt es noch eine ganz andere Svenja. Die, die wenig spricht, aber ein sehr gutes Gefühl dafür hat, was richtig und was falsch ist. Was ihr gut tut und was nicht. Wie die Welt ist und wie sie sein könnte. Das ist (und ich finde das selbst ziemlich unglaublich, denn ich schwöre, bis heute Morgen hatte ich keinen Namen dafür) MEINE SVENJA. Die kennen nur ganz ganz wenige Menschen. Die traut sich nicht ans Licht, weil sie genau weiß, dass sie immer Gefahr läuft, dass jemand den Knopf drückt und sie wieder 8 Jahre alt ist.

Aber wisst ihr was? Ich kann das nicht mehr. Ich kann nicht mehr so tun, als würde ich das alles nicht fühlen. Ich kann nicht mehr all dem, was mich mal ausgemacht hat, keine Bedeutung verleihen. Kann nicht ignorieren, dass ich jemanden in meinem Körper einsperre, der nie erwachsen werden darf.

Die kleine Svenja, MEINE SVENJA, mag nicht mehr in der Küche sitzen und weinen. Sie mag wieder zurück in den Garten ihrer Kindheit. Dorthin, wo es jedes Wochenende einen Blechkuchen gab und Eltern denen sie vertrauen konnte. Einen Bruder, der sie immer beschützt hat und der ihr bester Freund war. Sie mag wieder das Gefühl haben, dass sie alles sagen darf und dafür (und nicht trotzdem) geliebt wird. Und sie schert sich einen Scheiß darum, dass die große Svenja deshalb jetzt ganz schön die Hosen voll hat.

There is no turning back.

Eure Svenja

41 Kommentare

  1. LIebe Svenja,

    ich lese jetzt schon eine ganz Zeit hier mit und heute war es das erste Mal, dass mich Deine Worte zu Tränen gerührt haben. Ich selbst bin auch ein Scheidungskind und kann sehr gut nachempfinden was in Dir vorgeht und wie Du Dich fühlst. Meine Mutter hat vor 25 Jahren unsere Familie für einen anderen Mann verlassen und von diesem Tag war nichts mehr so, wie es einmal war. Ich habe einen großen Bruder und auch wenn dieser weit weg wohnt, habe ich ein tolles Verhältnis zu ihm. Solche Erlebnisse schweissen einfach zusammen. Aber genau so wie solche Erlebnisse zusammenschweissen, werden sie Dich immer prägen und egal wie alt Du bist, wie erfolgreich Du bist, wie toll Deine eigene Familie ist, holen Sie Dich von Zeit zu Zeit wieder ein , ohne dass Du etwas dagegen tun kannst und letztendlich werden wir wohl immer diese Sehnsucht nach einem heilen Elternhaus haben, die leider niemand stillen kann. Nimm Deinen Mann in den Arm und schaue auf Deine Kinder, dass beste was Dir passiert ist.

    Liebe Grüße und einen guten Rutsch in ein gesundes, frohes 2014

  2. Das hast Du gut gemacht, Du hast es schon mal aufgeschrieben und jetzt lese es vor, das fällt bestimmt leichter als das Ganze freiweg zu sagen. Ich drück Dir die Daumen.
    Alles Liebe, Katrin

    1. Ich habe jetzt noch eine kleine, wahrscheinlich völlig überflüssige Frage. Warum steht über meinem Kommentar “beliebt”. Das hab ich doch gar nicht geschrieben?

      1. Die Frage hatte ich schon einmal – eine Leserin schickte mir die Lösung: “Jetzt weiß ich auch, wo immer beliebt steht :) Unter dem eigenen Namen vor dem Kommentar, den man geschickt hat.”
        Das ist wohl generell so, nichts was ich eingestellt habe. Passt aber, bei mir ist jeder beliebt, der sich die Mühe macht, einen Kommentar zu hinterlassen ;-) Liebe Grüße, Svenja

  3. Liebe Svenja, ich lese im Moment gerade “Das bleibt in der Familie – von Liebe, Loyalität und uralten Lasten” von Sandra Konrad. Sehr spannend – für alle, denn auch viele “nicht-Scheidungskinder” haben “einen nicht anwesenden Vater”. Also für alle, die an ihrem “Päckchen” arbeiten wollen, Dinge besser verstehen wollen – und was ich in meinem Freundeskreis festgestellt habe, genau in unserem Alter kommt das bei vielen zu vollem Bewusstsein, manchmal sogar in der Form, dass der Körper schmerzt, Ärzte alles untersuchen und nichts finden, weil es das innere Kind ist, das hier ruft. Nutzen wir die Chance und kümmern uns darum, weil wir die Dinge erkennen und daran “arbeiten” können. Ich wünsche dir und deiner Familie ein wunderbares neues Jahr – fühl dich gedrückt!

  4. Liebe Svenja,
    ich bin ganz angerührt von der kleinen Svenja und der schreibenden, großen Svenja. Ein erster Schritt um die kleine Svenja bildlich gesprochen in den Arm zu nehmen. Da gibt es manche Möglichkeiten, dieses auch symbolisch zu tun.
    Viel Wärme, Tally

  5. Liebe Svenja,
    mir fehlen die Worte, aber trotzdem will ich nicht ohne Kommentar hier so reinschauen…..es ist beeindruckend, was Du von Dir preisgibst.
    Danke, dass Du uns teilhaben lässt und für Dein Vertrauen in Deine Leser. Man hat wirklich das Gefühl, Du bist eine Freundin, die man schon lange kennt, auch wenn man nur ab und zu hier vorbei schaut…..
    Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute für das Neue Jahr, mit vielen neuen Erkenntnissen und Perspektiven!
    Und vor allem viel Gesundheit, unser höchstes Gut.
    Sei gut zur kleinen Svenja und gib ihr die Plattform, die sie braucht.
    Lieben Gruß aus der Nachbarschaft
    Tina

  6. Genau so ist es Svenja. Aber bei mir ist der Punkt es nicht mehr alles mit mir auszumachen wohl noch nicht ganz und gar erreicht. Aber manchmal kann ich es schon. Und schlimm ist es nicht, es ist sogar gut. Viel schlimmer ist es, zu lesen, es geht dir ganz genauso.
    Alles Liebe
    Nina

  7. Liebe Svenja,
    ganz genau so ist es: man fühlt sich so zerissen, man kann als Kind nichts steuern, man ist das Schiffchen, das die Wellen hier oder dahin schubsen. Ich habe es auch erlebt. Feinfühlig, hellhörig, vorausschauend bleibt man geprägt sein Leben lang, aber wichtig ist, all diese Dinge im großen Ganzen zu sehen und abzugeben. Es war das Leben meiner Eltern, in dem ich mitschwamm – jetzt lebe ich mein Leben!!!
    PS: Gott ist trotzdem immer bei Dir!

  8. Hallo Svenja, ich habe den Post gerade erst gelesen. Du hast sehr gut beschrieben, wie wir fast alle in irgend einem Thema unser kleines verletzliches ICH in uns tragen. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und schicke Dir eine Portion Kraft und weiß genau diese Dinge im Leben, auch wenn sie schmerzhaft sind, lassen uns wachsen und zu dem werden was wir sind. Und Du bist ein ganz besonderer Mensch.

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