Ich möchte, dass ihr diesen Post lest, weil es sein kann, dass er einmal das Leben eures Kindes retten wird. Und das meine ich gar nicht melodramatisch, sondern durch und durch praktisch.
Auf der 20th Anniversary DVD Collection von Oprah Winfrey gibt es eine Stelle, da hat Oprah einen Kriminalkommissar eingeladen. Der spricht darüber, wie man sich verhalten muss, wenn man attackiert wird. Also wenn man alleine unterwegs ist und einem plötzlich jemand ein Messer an den Hals hält und sagt: “Ein Mucks und Du bist tot.” Solche Attacken kann man in zwei Phasen unterscheiden. Die erste Phase ist die Attacke selbst. Doch erst die zweite Phase ist die entscheidende. In der versucht der Täter Dich weg vom Ort der Attacke hin zu einem Ort zu bringen, der einsamer ist. Die Nebenstraße, der Waldweg, das Gebüsch, ein Lieferwagen, seine Wohnung. Die eigentliche Strafttat findet dann erst an diesem zweiten Ort statt. Was also war der sehr sehr eindringliche Rat des Experten? “Never let him take you to the second location” Dieser zweite Ort ist nämlich der, an dem Du von der Außenwelt isoliert bist, den Du nicht selbst auswählen kannst und an dem Du das Opfer eines Verbrechens werden sollst.
Lynne, eine regelmäßige Zuschauerin der Oprah Winfrey Show, wurde 8 Jahre nachdem sie diese spezielle Sendung gesehen hatte attackiert. In dem Moment der Attacke fielen ihr sofort die Worte des Kommissars ein und sie wehrte sich – und überlebte den Angriff.
Das alles erzähle ich euch, weil ich selbst auch schon einmal etwas bewirken konnte, weil ich spezielles Wissen hatten. Mein Vater ist Polizist und hat uns sehr früh beigebracht, wie man kritische Situationen löst, wenn man komplett ruhig und gefasst bleibt. In solch einer kritischen Situation war ich letztes Jahr im Sommer. Unsere direkten Nachbarn waren weggezogen und wir haben sie mit den Kindern gemeinsam abends zum Grillen im neuen Zuhause besucht. Während die Kinder alle gemeinsam Verstecken gespielt haben, saßen wir draußen und genossen einen der letzten lauen Sommerabende. Irgendwann hatte ich Ludwig, der zu dem Zeitpunkt fast 5 war, ungefähr 10 Minuten nicht gesehen. Nur die anderen Kinder waren immer wieder durch den Garten gelaufen. Auf Nachfragen fiel auch den Kindern auf, dass Ludwig ja mit Suchen dran gewesen sei und sie ihn danach nicht mehr gesehen hatten.
Zuerst bin ich aufgestanden, einmal durch das Haus von oben nach unten gelaufen und dann einmal um das Haus herum. Ich habe gerufen, aber keine Antwort bekommen. Da das Haus direkt an einer T-Junction lag, hätte Ludwig in drei verschiedene Richtungen laufen können.
Ich bin zurück zu den anderen und habe gesagt, dass alle nochmal im direkten Umfeld schauen sollen. Dann habe ich mir den Roller von einem der Kinder geschnappt, bin einmal um den Block gefahren und habe dabei immer laut gerufen. Nach der ersten Runde habe ich allen gesagt, dass sie mitsuchen sollen und JEDEN, den sie auf der Straße treffen, um Hilfe bitten sollen. Eine kurze Beschreibung von Ludwig (was hat er an, wie groß ist er, Haarfarbe und der Name) reichte, um Zufallsbegegnungen zu Helfern zu machen.
Dann bin ich noch eine größere Runde gefahren – von Ludwig weit und breit keine Spur. Das war die Runde, in der ich es einfach wusste. Ludwig war weg. Er hatte sich in dieser fremden Umgebung verlaufen oder Schlimmeres. Er hatte sich nicht versteckt und das hier war auch kein Witz. Mein Sohn war das erste Mal seit er auf dieser Welt ist nicht an einem sicheren Ort. Die S-Bahnstrecke war vielleicht 500 m Luftlinie entfernt und es wurde dunkel. Ich konnte nichts tun, um ihn zu beschützen.
Zu diesem Zeitpunkt war Ludwig seit ungefähr 20 Minuten verschwunden. Und plötzlich erinnerte ich mich daran, was mein Vater uns immer wieder eingebläut hatte: Eine kritische Situation kannst Du nur lösen, wenn Du ruhig bleibst. Und: Die ersten 30 Minuten, nachdem ein Verbrechen geschieht, sind entscheidend. Danach verringert sich die Chance auf eine Auflösung rapide.
Auch wenn wir erst seit 10 Minuten aktiv gesucht haben: Ich wusste, ich musste JETZT einen Notruf absetzen. Ich musste kompetent wirken, klar ausdrücken was ich wollte, eine genaue Beschreibung abgeben und detaillierte Angaben machen. Nicht weinen, bloß nicht weinen. Aufpassen, dass es mir nicht die Stimme verschlägt.
“Guten Tag, mein Name ist Svenja Walter. Mein vierjähriger Sohn Ludwig ist verschwunden. Wir haben Freunde in der XY Straße besucht. Die Kinder haben Verstecken gespielt. Mein Sohn ist seit 20 Minuten weg, er kennt sich in der Gegend nicht aus. Er ist nicht im Haus und in der näheren Umgebung. Er ist blond, 1,10 groß und trägt ein rotes T-Shirt, ein blaues Basecap, eine beige Shorts und blaue Sandalen. Mein Sohn ist noch nie weggelaufen. Die Telefonnummer unter der sie mich erreichen können lautet 123456. Bitte schicken sie sofort jemanden her.”
Der Polizist sagte: “Frau Walter, haben sie wirklich gründlich alles abgesucht?”
Ich: “Ja, habe ich!”
Der Polizist: “Dann schicke ich Ihnen einen Streifenwagen raus.”
Ich (und an dieser Stelle klopft mein Herz bis zum Hals aber ich schaffe es, dass meine Stimme ruhig bleibt): “Bitte schicken Sie nicht nur einen Wagen. Ich weiß, dass die ersten 30 Minuten bei sowas entscheidend sind. Ich bitte Sie: Schicken Sie alle Wagen, die sie in der Nähe verfügbar haben.”
Danach bin ich nochmal eine Runde mit dem Roller gefahren und habe Ausschau gehalten. Ludwig war nirgendwo zu sehen. Also habe ich in mich reingehört. Ich hatte wirklich Angst und es machte mich fast verrückt, wenn ich an die Bahnstrecke und die Dunkelheit dachte und dass genau in diesem Moment vielleicht etwas Schreckliches passiert. Aber gleichzeitig fühlte ich auch, dass noch nichts passiert war. Es ist schon seltsam, aber ich glaube, Mütter haben durch diese ganz besondere Verbindung zu ihren Kindern in solchen Momenten die Fähigkeit, zu spüren, was los ist. Und ich spürte ganz klar: es geht ihm gut.
Als der Polizeiwagen vorfuhr, kam nur einige Sekunden später auch unser Freund an: Er hatte Ludwig im Auto dabei. Ludwig war 500 Meter in eine Richtung gelaufen, weil er dort das Haus unserer Freunde vermutete. Er hatte komplett die Orientierung verloren und war schnurstracks in eine Richtung marschiert. 500 Meter, das war unglaublich. Vor allem, weil er dafür jede Menge Straßen hatte überqueren müssen. Vor einer Gaststätte hatten ihn einige Erwachsene angesprochen, die sich wunderten, warum so ein kleiner Junge alleine unterwegs war. Dort war er dann stehengeblieben, bis einer unserer ausgeschwärmten Helfer ihn entdeckt hatte.
Die Polizei war verständnisvoll und sagte, dass wir es genau richtig gemacht hätten und dass sie lieber einmal zu früh, als einmal zu spät gerufen werden.
Welcher Stein mir vom Herzen gefallen ist, muss ich wohl nicht sagen. Ich habe Glück gehabt und meinen geliebten Sohn zurückbekommen. Und wenn ihr jemals in so eine Situation kommt, hoffe ich, dass ihr euch an diesen Post erinnert.
a) Wenn ein Kind verloren geht, sofort in der näheren Umgebung GRÜNDLICH suchen.
b) Dann in einem etwas erweiterten Radius suchen und zuerst besondere Gefahrenquellen (Gewässer, Straßen) abchecken.
c) Alle Menschen, die man trifft, zu Helfern machen und ihnen eine Kurzbeschreibung des Kindes an die Hand geben. Alle Helfer bitten, wiederum die Menschen zu Helfern zu machen, die ihnen bei der Suche begegnen.
d) Innerhalb der ersten halben Stunde (je früher, desto besser) einen Notruf absetzen. Vorher einmal durchschnaufen und ruhig bleiben. Wenn Du weinst wirkt das nur hysterisch und vor allem VERSTEHT DER POLIZIST NICHTS. Das kostet wertvolle Zeit, die Dein Kind vielleicht nicht hat. Also reiß Dich zusammen.
e) Folgende Infos sollte der Notruf enthalten: Was ist wann wo und wie passiert. Außerdem brauchen Polizisten immer: Einen vollen Namen, eine Adresse, eine Telefonnummer, eine Personenbeschreibung.
f) Hört in euch hinein. Mütter spüren in gefährlichen Situationen ganz häufig, wie es ihren Kindern geht.
Und jetzt wünsche ich euch ganz viel Sicherheit für euch und eure Lieben – auf dass ihr all diese Tipps niemals braucht, aber sie trotzdem für den Notfall im Hinterkopf behaltet. Wer weiß, vielleicht könnt ihr damit mal selbst jemanden aus einer Notlage befreien.
Alles Liebe
Eure Svenja
4 Kommentare
liebe Svenja, als ich diesen Bericht von Dir gelesen habe, ist es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen und ich hatte Tränen in den Augen, weil ich genau weiß, wie Du Dich gefühlt haben musst.
Auch wir waren vor etlichen Jahren in so einer Situation: Unsere zwei älteren Söhne waren gerade mal vier und fünf Jahre alt. Wir wohnten noch in Neuperlach in einer Erdgeschosswohnung. Als wir an einem Nachmittag vom Einkaufen nach Hause kamen, wollten die zwei noch ein paar Minuten draußen bleiben, mit ihren Freunden spielen. Da ich wusste, sie würden wie immer nur vor der Haustüre im Innenhof spielen, erlaubten wir es, dass sie noch für zehn Minuten bleiben durften. Sie waren ja nicht allein. Doch als wir die beiden um sechs Uhr dann hereinholen wollten, waren sie nicht mehr da!!!
Auch wir – mein Mann und ich – suchten erst mal im näheren Umkreis im Hof, auch bei den Nachbarkindern fragten wir nach. Doch leider nirgendwo eine Spur. Auch bei uns wurde es allmälich dunkler und es hatte sich schon eine beträchtlich Gruppe an Hilfspersonen eingefunden. Ich wurde immer nervöser und hatte die wildesten Phantasien, man hörte ja immer wieder von den schlimmsten Verbrechen und mein Kinder waren doch noch so klein.
Nach etwa einer dreiviertel Stunde, kurz bevor wir so weit waren, die Polizei zu rufen kam dann endlich die erlösende Nachricht. Man hatte die Buben gefunden. Und Du glaubst es nicht, wo!! Auch meine Kinder waren etwa einen Kilometer weit gelaufen, mit einem anderen Buben, nicht viel älter als sie, der dort zu seiner Oma gegangen war und die beiden überredet hat, mitzukommen, da er sich alleine nicht traute. Und dann standen sie dort an einer Straße und wussten nicht mehr weiter. Aber wie es der Zufall will, kam gerade in diesem Augenblick ein Schutzengel in Person einer Nachbarin vorbei und hat den Beiden den Weg gezeigt, auch über zwei oder drei Ampeln. Was waren wir erleichtert und froh. Leider wissen wir bis heute nicht, wer das war.
So, dass war jetzt ein wenig lang, aber nach Deiner Geschichte, wurde meine Geschichte plötzlich wieder so lebendig und ich musste das jetzt einfach mal erzählen.
Liebe Grüße,
Sabine
schluck…
und erleichtert, dass alles nochmal gut ausgegangen ist…
ich kann diese Ängste so gut nachvollziehen…
LG
Andrea
Und heute war der Moment, wo ich glücklich war vor langer Zeit diesen Artikel gelesen zu haben. Mein 2,5jähriger ist wieder da. Es geht ihm gut. Einer der zu Helfern gemachten Passanten brachte ihn zurück. Danke, Svenja.
OH MANN. Und ich habe gerade Gänsehaut am ganzen Körper. DANKE, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, mir dieses Feedback zu geben. Wäre es OK für Dich, wenn ich Deine Zeilen verblogge und mit diesem Aufhänger nochmal auf meinen Post hinweise? So könnten wir vielleicht auch einer anderen Mama im entscheidenden Moment helfen. Ich bin so froh, dass alles ein gutes Ende für euch hatte. Svenja